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20. Dezember 2022

Elektronischer Rechtsverkehr

Zwei Schritte vor, einer zurück - Software-Unternehmen können helfen, die Digitalisierung trotz der Spannungen zwischen Anwälten und Justiz voranzutreiben

„Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Im Fall des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) müsste es aber vielmehr heißen „hilft der Dritte“. Gemeint ist die Tatsache, dass Hersteller von Branchensoftwarelösungen über einen Erfahrungsschatz verfügen, der in der Diskussion über die Digitalisierung des Justizsektors richtungsweisend sein könnte. 

Denn eines ist klar: Der Handlungsbedarf ist groß. Eine aktuelle Studie der Boston Consulting Group (BCG) testiert Deutschland in Sachen Digitalisierung großen Aufholbedarf.

"Die Digitalisierung der Justiz hinkt hinter den führenden Ländern hinterher, während die Überlastung der Gerichte, der Kostendruck und die bevorstehende Pensionierungswelle – über 25 Prozent aller Richter werden bis 2030 in den Ruhestand gehen – den Druck zur Modernisierung und Digitalisierung der Gerichte erhöhen."

Dr. Christian Veith Senior Advisor bei BCG und Co-Autor der Studie

Nur 43 Prozent der Kanzleien digitalisiert

Derzeit haben bereits 47 Prozent der Kanzleien und 53 Prozent der Insolvenzverwalter den Großteil ihrer Prozesse digitalisiert. Demgegenüber stehen die Justizbehörden, die zur Führung einer elektronischen Akte und damit zur aktiven Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr erst ab dem 01.01.2026 verpflichtet sind. Die sich daraus ergebende Diskrepanz im Digitalisierungsreifegrad entpuppt sich immer mehr als Show-Stopper einer fruchtbaren Zusammenarbeit. 

Föderalismus als Innovationsbremse der Digitalisierung

Als herausfordernd erweist sich in diesem Kontext aber nicht nur der Unterschied im Reifegrad der Digitalisierung, sondern vor allem die Tatsache, dass im föderalistisch organisierten Deutschland die Justiz der Länderhoheit unterliegt. Das bedeutet, der Bundesgesetzgeber kann nur die Rahmenbedingungen des ERV definieren – entscheiden und umsetzen müssen die Digitalisierung schlussendlich die einzelnen Bundesländer. Diese sind auch durchaus gewillt, die Fristen für die Einführung des ERV einzuhalten – allerdings sind die Wege dorthin durchaus sehr unterschiedlich. Die Folge: Ein digitaler Flickenteppich. Das führt nicht nur dazu, dass Rechtsanwälte und Kanzleien überarbeitet und gestresst sind, weil die Anforderungen seitens der Gerichte von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sind. Vielmehr ist die Justiz auch viel zu viel mit sich selbst beschäftigt und auf die eigenen Anforderungen fokussiert, als dass sie in der Lage wäre, von den seitens der Kanzleien bereits gesammelten Erfahrungen zu profitieren. 

Einheitliche Strukturdaten notwendig für Datenaustausch

Aber unabhängig davon, dass der Föderalismus und die mangelnde Offenheit den Digitalisierungsfortschritt ausbremsen, werden auch andere Chancen vertan. Ein gutes Beispiel dafür, dass Überlegungen seitens der Justiz vielfach nicht zu Ende gedacht werden, ist der Umgang mit den Anforderungen an Namenskonventionen von Dateien und Dokumenten. Hier war das ursprüngliche Ziel, die Komplexität der Namenskonventionen zu reduzieren. Das wäre relativ einfach, indem man die technischen Möglichkeiten, die sich aus der Nutzung von Strukturdatensätzen ergeben, ausschöpft. Da sich ein Strukturdatensatz quasi, wie der Beipackzettel einer Datei einsetzen lässt, indem man die vorgegebenen Datenfelder – zum Beispiel Gerichtsbezeichnung, Aktenzeichen, Verfahrensart, Register etc. – ausfüllt, könnten über die Strukturdatensätze alle wichtigen Informationen zwischen den Kanzleien und Gerichten ausgetauscht werden.

Warum einfach, wenn es kompliziert geht

Doch man hat sich für einen anderen Weg entschieden. Anstatt die Plausibilität der Strukturdatensätze zu nutzen, ist festgelegt worden, welche Namen Dateien und Dokumente haben müssen, wenn sie seitens der Kanzleien bei Gericht eingereicht werden, beispielsweise die Insolvenztabelle oder auch die Berufungsbegründung. Und diese Vorgaben sind dann wieder bundesland- oder gerichtsspezifisch. So entstehen Abläufe und Prozesse, die jeder Vernunft widersprechen. Das hat zur Folge, dass ein Rechtsanwalt oder Insolvenzverwalter, der in mehreren Bundesländern tätig ist, letztlich für jedes Gericht einzeln prüfen muss, ob die Dateien korrekt bezeichnet sind. Das erhöht nicht nur den Frust, sondern auch den Aufwand innerhalb der Kanzleien – in Zeiten akuten Mitarbeitermangels ebenfalls ein nicht zu vernachlässigender Faktor.

Erste Schritte in die richtige Richtung: beA & Co.  

Doch es gibt noch Hoffnung – oder anders ausgedrückt: Verbesserungspotenzial – im Umgang mit den Namenskonventionen. Da sich die Bundesländer nach wie vor nicht auf einen einheitlichen Standard der Dateibezeichnungen einigen können, springt die Softwareindustrie mit kreativen Lösungsvorschlägen ein. Um die digitale Kommunikation zwischen Anwaltschaft und Justiz zu erleichtern, bietet beispielsweise die Software der STP ab Dezember 2022 die Möglichkeit, für jedes Gericht voreinzustellen, welche Datei- und Dokumentbezeichnungen beim Versand von elektronischen Nachrichten an das Gericht Verwendung finden sollen. Dies erspart dem Insolvenzverwalter vor jedem Versand die Prüfung der individuellen gerichtlichen Anforderungen und damit wertvolle Zeit.  

EGVP und beA ermöglichen rechtssicherer Kommunikation

Zu Erleichterung tragen zudem das für die Justiz eingeführte elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) und das Pendant, das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), bei. Beide sind etabliert worden, um eine rechtssichere, digitale Kommunikation zu ermöglichen. Damit sind zwar die Voraussetzungen geschaffen, aber das allein reicht nicht aus. Mehr als 50 Prozent der Rechtsanwälte arbeiten mit einer Kanzleisoftware und erwarten hier eine integrierte Kommunikation mit dem beA-System. Deshalb ist kurz nach dem Start des beA-Web-Portals eine Kanzleisoftware-Schnittstelle geschaffen (KSW-Schnittstelle) worden. Problematisch dabei: In der Vergangenheit hat sich die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) in erster Linie auf die Weiterentwicklung des BRAK-eigenen beA-Web-Portals konzentriert – weniger auf die KSW-Schnittstelle. So sind auch nicht alle Neuerungen und Komfortfunktionen des beA-Web-Portals in die KSW-Schnittstelle übernommen worden, was zu verstärkten Spannungen zwischen den Herstellern von Kanzleisoftware und der BRAK führt. 

Kein Wunder, ist die Kommunikation über eine Schnittstelle zu beA für die überwiegende Mehrzahl der Kanzleien doch ein zwingendes Erfordernis in ihrer täglichen Arbeit. Der Software-Industrie-Verband elektronischer Rechtsverkehr (SIVERV), in dem die meisten Hersteller von Kanzleisoftware organisiert sind, sieht sich deshalb als Sprachrohr der Hersteller und ihrer Kunden gegenüber der Justiz sowie der BRAK. Zwar besteht ein regelmäßiger Austausch zwischen den Parteien, aber es wäre wünschenswert, dass die BRAK sich den reichhaltigen Erfahrungsschatz der Softwareindustrie und Kanzleien zunutze macht, um aus den erprobten Arbeitsabläufen zu lernen und von den Erkenntnissen zu profitieren. 

Gemeinsam an einem Strang ziehen

Aktuell deuten erfreuliche Signale auf ein Umdenken der BRAK hin. Demnach sollen die Hersteller künftig enger in die Weiterentwicklung der KWS-Schnittstelle eingebunden werden. Augenscheinlich ist erkannt worden, dass die Expertise auf Seiten der Softwareunternehmen den Weg zur Einführung des ERV in den Justizbehörden nicht nur ebnen, sondern auch beschleunigen kann.  

Mit dieser Entwicklung scheint sich nun ein gemeinsamer Weg von BRAK und Softwareherstellern abzuzeichnen. Das erlaubt einen positiven Ausblick auf die Zukunft der elektronischen Kommunikation. Wünschenswert wäre, dass dieses neue Selbstverständnis auf andere Bereiche ausgeweitet würde. Dabei könnte es helfen, dass Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann den Ländern für die kommenden Jahre 200 Millionen Euro für Projekte zur Digitalisierung ihrer Justizbehörden in Aussicht gestellt hat. Um dieses Geld möglichst zielführend einzusetzen, wäre es ratsam, auf die Erfahrungen der Anwaltschaft sowie des SIVERV zurückzugreifen. Sicherlich gibt es zahlreiche Ansätze, mit welchen Projekten, Strukturen und Technologien sich der Digitalisierungsgrad der deutschen Justiz effektiv vorantreiben lässt. Dann müssten die Justizbehörden nicht wieder bei null anfangen, sondern könnten Fehler vermeiden und das deutsche Rechtswesen gemeinsam mit allen Beteiligten erfolgreich in ein Zeitalter der „vernünftigen“ Digitalisierung führen. Das würde der Zusammenarbeit von Behörden und Anwaltschaft den langersehnten und längst überfälligen positiven Schub verleihen.